Es ist vorbei – für den Westen. Trotz zwei Jahrzenten US und NATO-Einsatz haben die Taliban nun die Kontrolle über Afghanistan. Im Rahmen ihres zwei Wochen langen rapiden Vormarsches sind die Taliban bis in die Außengebiete der Hauptstadt Kabul vorgerückt und haben schließlich den Regierungssitz eingenommen. Fast alle Provinzen stehen unter Taliban-Kontrolle. Die Ghani-Regierung kündigte eine Machtübergabe an die Taliban an, während das afghanische Volk sich nun auf eine unsichere Zukunft vorbereiten muss.
Die erste Einschätzung von US-Geheimdiensten zur Dauer des Zerfalls der Ghani-Regierung in Afghanistan nach dem Rückzug der USA lautete 6 Monate. Später sollte dies sich aber als zu optimistisch herausstellen, denn schon in den ersten Momenten nach dem Rückzug begann der Vormarsch der Taliban. Ein Vormarsch, der ein regelrechter und massiver Eroberungsfeldzug wurde. Schon war klar – die afghanische Armee würde dieser immer stärker werdenden Welle nicht standhalten können, was letztlich von Entwicklungen im Feld bestätigt wurde.
Während die Taliban Stadt für Stadt mehrere Provinzen einnahmen, lautete die nächste Schätzung 90 Tage. Nach der Beschleunigung der Taliban-Offensive wurde jedoch auch diese Angabe revidiert und zuerst auf 30 Tage, in der Hochphase der Offensive schließlich sogar auf 72 Stunden geändert.
So kam es tatsächlich. Der Zerfall der Regierung in Kabul kam schneller als erwartet. Innerhalb von kaum zwei Wochen nahmen die Taliban ungehindert dutzende Provinzen und deren Hauptstädte – mindestens 30 von 34 – ein und marschierten in Richtung Kabul. Sie stationierten sich am Stadtrand und warteten auf die Übergabe. In einer Erklärung versicherte ein Taliban-Sprecher, man werde die Stadt nicht angreifen und auf den „friedlichen Machtübergang“ warten. Aufgrund der Größe und dichten Besiedelung wolle man die Stadt „ohne Kämpfe“ einnehmen. Hierfür habe man allen Taliban-Kämpfern befohlen, die Stadt nicht zu betreten.
In einer späteren Erklärung wurde jedoch der Eintritt von Taliban-Kämpfern in die Stadt bekanntgegeben. Man wolle verhindern, dass das „Sicherheitsvakuum“ in von der Regierung verlassenen Gebieten durch Verbrecher ausgenutzt wird, um der Bevölkerung zu schaden, so die Taliban. Schwerbewaffnete Taliban-Kämpfer drangen mit Panzerwagen und Motorrädern in die Stadt ein. Mehrere wichtige Institutionen und Gebäude, darunter auch der Präsidentenpalast wurden von Taliban-Kämpfern eingenommen. Dort werde man bald das „Islamische Emirat von Afghanistan“ offiziell verkünden, sagte ein Taliban-Offizier gegenüber der AP. Im Büro von Präsident Ghani wurde in den Abendstunden der Koran rezitiert.
Die Entwicklungen in der Nähe von Kabul wurden auch von Seiten der Regierung bestätigt. „Auf die Stadt wird kein Angriff erfolgen und ein friedlicher Machtwechsel wird vollzogen werden“, betonte der afghanische Innenminister. Unter Berufung auf afghanische Beamte und Repräsentanten der Taliban wurde von Plänen zur Errichtung einer Übergangsregierung mit den Taliban an der Spitze berichtet. Im Nachhinein kamen jedoch widersprüchliche Aussagen von Taliban-Offizieren. Gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters gaben zwei Quellen der Taliban an, dass es keine Übergangsregierung geben werde. Demnach erwarte man den vollständigen Machtübergang an die Taliban, so die Quellen.
Zuvor traf eine Delegation der Taliban für Verhandlungen zur Bildung einer neuen Regierung im Präsidentenpalast in Kabul ein. Unbestätigten Medienberichten zufolge wird Mullah Abdul Ghani Barader, ein hochrangiger Taliban, die neue Regierung leiten. Laut Beamten der Taliban befindet sich Barader immer noch in der katarischen Hauptstadt Doha und wird in Kabul eintreffen, sobald die Verhandlungen abgeschlossen sind. Präsident Ghani sei inzwischen zusammen mit Vizepräsident Saleh von seinem Amt zurücktreten und habe das Land verlassen, berichteten afghanische und amerikanische Medien. In einer Erklärung über Facebook nach der Einnahme von Kabul durch die Taliban gab Ghani an, er habe die Stadt verlassen um ein „Blutvergießen“ zu verhindern. Nur ein Tag vor der Einnahme von Kabul hatte er „ernsthafte Aktionen“ gegen die Taliban und eine „erneute Mobilisierung“ der Truppen versprochen.
Jetzt da die Kontrolle der Taliban über Afghanistan feststeht, stellt sich für das afghanische Volk die Frage, wie die Zukunft aussehen wird, besonders in Bezug auf kritische Themen wie Frauenrechte. Taliban-Sprecher Suhail Shaheen äußerte sich gegenüber der BBC zum Thema. Man werde die „Ehre der Frau“ schützen, weshalb kein Grund zur Sorge bestehe, so Shaheen. „Wir werden es Frauen auch erlauben alleine aus dem Haus zu gehen, zu arbeiten und zu studieren“, sagte Shaheen. Dies soll allerdings nur dann möglich sein, wenn die Frau einen Hijab trägt.
Auch werde das „Islamische Emirat“, wie sich die Taliban selbst bezeichnen, Kritik in der Presse erlauben. „Wir werden die Ausübung von Kritik erlauben“, kündigte der Sprecher an. Diese Kritik dürfe aber keine Manipulation enthalten.
Shaheen machte auch Bemerkungen zu den Flüchtlingswellen aus Afghanistan. „Wir möchten nicht, dass das Volk Afghanistan verlässt“, hieß es im Interview mit der BBC. Laut Shaheen wird die Taliban aber trotzdem niemanden davon abhalten das Land zu verlassen, denn schließlich könne man niemanden zwingen zu bleiben. „Wir können aber garantieren, dass es kein Grund zur Sorge gibt“, versicherte er dem afghanischen Volk. Die Gruppe werde keine Rache ausüben, so Shaheen.
In einem Interview mit CNN zur aktuellen Lage in Afghanistan führte US-Außenminister Blinken an, der Status-Quo im Land sei nicht mehr tragfähig gewesen. “Ob es uns gefällt oder nicht, wir hatten einen Deal mit den Taliban und hätten wir diese Abmachung nicht eingehalten, wären wir erneut in einen Krieg mit zehn Tausenden Truppen geraten”, begründete Blinken den Rückzug, an dem starke Kritik ausgeübt wird. “Ein Jahr, oder fünf Jahre oder zehn Jahre mehr in Afghanistan entspricht nicht unseren nationalen Interessen”, hieß es ferner. Die USA sei in Afghanistan einmarschiert, um die Täter des 11. September zur Rechenschaft zu ziehen – eine Mission, die laut Blinken „erfolgreich“ erfüllt wurde.
Im Laufe des Tages lief die Evakuierung aus Afghanistan in vollem Gange. Chinook-Helikopter der US-Luftwaffe evakuierten Botschaftsmitarbeiter zum Kabuler Flughafen. Zuvor wurden alle sensitiven Materialien in der Botschaft vernichtet. Mehrere militärische Transportflugzeuge landeten am Flughafen, um die dort versammelten Staatsbürger und afghanischen Bürger mit speziellem Visum zu evakuieren.
Neben weiteren europäischen Staaten entschloss sich auch Deutschland dazu, die Botschaft in Kabul zu räumen und das Personal zu evakuieren. Außenminister Maas gab die Entscheidung über Twitter bekannt. Des weiteren habe er den Krisenstab der Bundesregierung einberufen, „um Sofortmaßnahmen zur Sicherung und zur Ausreise deutscher Bediensteter und weiterer gefährdeter Personen aus Afghanistan auf den Weg zu bringen“.
Mit dem schnellen Eindringen von Taliban-Kämpfern in die Hauptstadt in Verbindung mit der hohen Personenzahl am Flughafen droht die Evakuierung jedoch zu scheitern. Journalisten und Aktivisten vor Ort, die ebenfalls auf Evakuierung warten, beklagten über soziale Medien am Flughafen in einer schwierigen Lage festzuhängen. Die Sicherheitslage in Kabul werde zunehmend schlechter, gab US-Botschaft in Kabul gab an. Laut der Botschaft geriet der Flughafen unter Beschuss, weshalb die Botschaft alle US-Bürger dazu aufrief, Schutz zu suchen.