Im Nachfeld der Taliban-Übernahme herrscht in Afghanistan nun Chaos, dabei besonders in der Hauptstadt Kabul. Auslöser für die Übernahme der Taliban und somit auch des Chaos ist der US-Rückzug. Im Hintergrund dieses Rückzugs aus dem Land ist jede Menge passiert, enthüllt nun ein Bericht der New York Times – geheime Treffen und ein angespanntes Verhältnis mit Präsident Ghani.

US: All Options on Table for Decision on Afghan Military Mission | Voice of  America - English

In Afghanistan geben nun die Taliban die Richtung vor. Wie soll das politische System aussehen, wie soll das Justizsystem gestaltet werden und welche Rechte stehen der Frau zu? Die Antworten dieser Fragen sind bei der Taliban – zu einem großen Teil dank des US-Rückzugs und dem damit verbundenen Zerfall der afghanischen Armee. Ein Bericht der New York Times deckt nun auf, was im Hintergrund der Rückzugsentscheidung passiert ist.

Am 24. April fand ein geheimes Treffen im Pentagon zwischen hochrangigen US-Offizieren mit dem Thema „Afghanistan“ statt. Teilnehmer des Treffens waren unter anderem Verteidigungsminister Austin, Generalstabschef Milley und Außenminister Blinken, der sich per Videoanruf dazuschaltete. Daneben waren auch hochrangige Beamte des Weißen Hauses und der Geheimdienste anwesend.

Nach vier Stunden gaben Offiziere des Verteidigungsministeriums an, man könne die 3,500 US-Truppen bis zum 4. Juli aus Afghanistan abziehen und den Luftstützpunkt Bagram – die zentrale Basis der amerikanischen Soldaten im Land – schließen. Beamte des Außenministeriums wollten jedoch die Botschaft in Kabul offen lassen. Zu diesem Zweck sollten 650 US-Marines die verbleibenden 1,400 Amerikaner in Afghanistan schützen, entschieden die Teilnehmer des Treffens.

Ein im Treffen vorgelegter Geheimdienstbericht gab an, die afghanische Armee könne die Taliban für ein bis zwei Jahre nach dem US-Rückzug abwehren. Keiner ahnte, wie unglaublich unzutreffend dieser Bericht war und wie schnell die afghanische Armee zusammenbrechen würde. Auch eine eventuelle Evakuierungsoperation wurde angesprochen – aber eben nur kurz. Keiner der Teilnehmer erwähnte ein Szenario, in dem die Taliban auch den internationalen Flughafen einnehmen – einen Ausweichplan für dieses Szenario gab es nicht. Die besprochenen Maßnahmen seien „ein guter Plan“, hieß es am Ende des Treffens.

Der Grund für diese ruhige Haltung von US-Offizieren und Beamten war eine erneute Fehleinschätzung der Lage in Afghanistan. Die Zeit sei auf ihrer Seite, lautete die falsche Vorstellung der Biden-Regierung. Daneben wurde der Kampfwille der afghanischen Armee erheblich überschätzt und der negative psychologische Effekt des US-Rückzugs auf afghanische Soldaten unterschätzt.

US-Offiziere und Beamte gaben an, mehr als 50 Treffen zur Sicherheit der Botschaft und eventueller Evakuierungsoperationen gehalten zu haben. In diesen Treffen wurde ein rapider Vormarsch der Taliban jedoch nicht einkalkuliert. All die in den Treffen entworfenen Pläne fielen somit ins Wasser. Als man im Lichte der neuen Situation von den originalen Plänen abwich, war es schon zu spät.

Die New York Times berichtet auch darüber, wie angespannt das Treffen zwischen US-Präsident Biden und seinem afghanischen Amtskollegen Ghani am 25. Juni ablief. Sobald Journalisten das Zimmer verließen, machte sich eine angespannte Atmosphäre bemerkbar.

Ghani, den Biden als „dickköpfig und arrogant“ betrachte, habe drei Forderungen aufgestellt, so die US-Beamten, die beim Treffen anwesend waren. Zunächst forderte er eine „konservative“ Haltung der USA in Bezug auf Gewährung von Visen an Afghanen. Ferner wollte er, dass Afghanen mit Visum das Land „unauffällig“ verlassen. Eine öffentliche Wahrnehmung, dass die Biden-Administration seiner Regierung nicht traut, wollte Ghani hiermit vermeiden. Zudem wollte Ghani die Fortsetzung von amerikanischen Luftangriffen gegen die Taliban.

US-Beamten fürchteten Angriffe gegen US-Diplomaten im Falle einer zu direkten Konfrontation mit den Taliban, doch trotz dieser Sorgen akzeptierte Biden die Forderungen von Ghani – und hatte selber einen Vorschlag an ihn. Seine Truppen seien „zu dünn“ verteilt und er solle afghanische Soldaten lieber nur um wichtige Punkte des Landes herum stationieren, anstatt sie über das ganze Land zu verteilen und versuchen überall zu kämpfen. Ghani folgte diesem Vorschlag jedoch nicht.

Während sich die afghanische Armee in einem ständigen Rückzug gegen die Taliban befand und Provinzhauptstädte in ganz Afghanistan nach und nach in die Hände der Taliban fielen, hielten Diplomaten und militärische Offiziere in Washington mehrere Treffen auch mit Teilnahme von Präsident Biden. Im Zuge des rapiden Taliban-Vormarsches wurde entschieden, ein Großteil des Personals der Botschaft zu evakuieren. Verbleibendes Personal sollte aufgrund der logistisch günstigen Lage vom Kabuler Flughafen aus operieren. Am 11. August schließlich erteilte Biden den Befehl, militärische Flugzeuge zur Evakuierung einzusetzen.

Als in der Nacht des 12. August die wichtigen Städte Kandahar – Geburtsort der Taliban – und Ghazni Stück für Stück unter Taliban-Kontrolle fielen, versammelten sich hochrangige Offiziere um 4 Uhr morgens zu einem Treffen. Anwesend war auch Avril Haines, Direktorin der Nationalen Nachrichtendienste. Im Falle einer bevorstehenden Belagerung von Kabul durch die Taliban, könne man das Aussprechen einer ausreichenden Warnung über diese Belagerung nicht mehr garantieren, informierte Haines. Für die anwesenden Teilnehmer zeigte dies, wie alarmierend die Lage ist. Ein Teilnehmer gab an, man habe sich im Raum gegenseitig angeschaut und sei auf das gleiche Ergebnis gekommen: Es wird Zeit, das Land zu verlassen.

Verteidigungsminister Austin erteilte den Befehl, verbleibendes Botschaftspersonal dringend zum Flughafen zu evakuieren. Der stellvertretende Botschafter Ross Wilson bat um 72 Stunden Zeit, doch Austin wollte die sofortige Verlegung des Personals zum Flughafen.

Während die Evakuierung der US-Botschaft im Gange war, hielt Außenminister Blinken ein Telefongespräch mit dem afghanischen Präsidenten Ghani. Er werde Afghanistan bis zum Ende verteidigen, verkündete Ghani gegenüber Blinken. Im Hintergrund hatte Ghani aber andere Ziele bzw. ein Ziel – die Flucht ergreifen. Laut US-Beamten plante Ghani schon zur Zeit des Gesprächs mit Blinken seine Flucht aus Afghanistan. Das Versprechen, er werde Afghanistan „bis zum Ende“ verteidigen, hielt er nicht. US-Offiziere erfuhren von Ghanis Flucht aus den Medien, so die US-Beamten gegenüber der New York Times.

Seitdem läuft nun eine chaotische Mission zur Evakuierung tausender Menschen aus Afghanistan. 28 Tausend Menschen wurden seit dem 14. August aus Kabul evakuiert, gab Präsident Biden an. Der Rückzug und die Evakuierungen sollen gegenwärtig offiziell noch bis zum 31. August laufen. Aufgrund der verschärften Sicherheitslage möchte die USA die Evakuierungen aber bereits zum 28. August abschließen. Zu diesem Zweck sollen die Evakuierungen beschleunigt und der letzte Flug am 28. August durchgeführt werden, bestätigte ein hochrangiger deutscher Diplomat gegenüber Business Insider.